Es gibt 3 Achillessehnen im OEG Verfahren:
1. Die Glaubwürdigkeit, dass man Opfer einer Straftat wurde
2. Der Tatzeitraum bestimmt, nach welchem Recht über den Antrag entschieden wird
3. Straftatunabhängige Vor- oder Nachschäden, die den GdS absenken


Glaubwürdigkeit ist so ein ätzendes Wort…geht es doch einfach nur darum, ob Antragsteller überzeugend genug sind, dass sie Opfer einer Straftat wurden.
Gibt es keine eindeutigen Beweise wie Urteile oder Zeugen , was besonders MB-Fälle in der Kindheit betrifft, hängt alles an den Aussagen der Betroffenen.

Das heißt im Klartext: Fehlen Beweise und ist die schriftliche Stellungnahme für das Versorgungsamt nicht plausibel, müssen sich die Betroffenen von mehr oder weniger qualifizierten Ärzten des Versorgungsamtes oder externen Sachverständigen aussagepsychologisch begutachten lassen.
Die Freiwilligkeit, sich als Betroffene dieser Begutachtung zu stellen, ist hier eher kritisch einzuschätzen…natürlich kann man ablehnen, doch das ist für den weiteren Verlauf des Antragsverfahrens wahrscheinlich eher nicht förderlich.

Stolpersteine sind in diesem ersten Abschnitt des OEG-Verfahrens u.a. Dissoziative Störungen, Amnesien, das Alter des Opfers und dessen Reife oder auch False Memory Effekt (z.b. durch Suggestion durch Therapeuten oder Bezugspersonen).

Das Arbeitsprinzip der Begutachter sieht ungefähr so aus:

1. Begutachtung

Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist – wie sich bereits aus dem Begriff ergibt – nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen.

a) Das methodische Grundprinzip besteht darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahr-Hypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt.

Die Bildung relevanter Hypothesen ist daher von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar.

Beispielsweise hängt die Auswahl der für die Begutachtung in Frage kommenden Test- und Untersuchungsverfahren davon ab, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine – unterstellt – unwahre Aussage in Betracht zu ziehen sind (sog. hypothesengeleitete Diagnostik. Dazu können neben einer bewussten Falschaussage etwa auto- oder (bewusst) fremdsuggerierte Angaben gehören. Speziell bei kindlichen Zeugen besteht die Gefahr, dass diese ihre Angaben unbewusst ihrer eigenen Erinnerung zuwider verändern, um den von ihnen angenommenen Erwartungen eines Erwachsenen, der sie befragt, zu entsprechen oder um sich an dessen vermuteter größerer Kompetenz auszurichten. Zu berücksichtigen sind allerdings nicht alle denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistisch erscheinenden Erklärungsmöglichkeiten.

Die Fragerei und Bohrererei bei diesem Arbeitsprinzip ist nicht nur belastend, sie kann auch retraumatisierend sein und viel zu oft bleiben Opfer nach diesem Procedere auf der Strecke und ihnen flattert völlig unerwartet die Ablehnung ihres OEG-Antrags ins Haus.
Und dann wird selbst die Suche nach (anwaltlicher) Unterstützung für den Widerspruch schwierig…Betroffene berichten immer wieder davon, dass sie abgewimmelt werden bei Sozialverbänden, Anwälten, selbst bei Opferhilfen wird Unterstützung abgewehrt.

Ich weiß gar nicht, was der größere Skandal ist:
Die völlige Abhängigkeit des Betroffenen von der Einschätzung eines Gutachters (niemand überprüft deren Fähigkeiten) oder die anschließende mögliche Verhinderung des Rechts auf Widerruf durch das Alleinlassen der Betroffenen bei diesem Schritt durch Anwälte und Beratungsstellen?!

Tritt beides auf, ist das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit die endgültige Zerstörung einer Seele!


Der Tatzeitpunkt entscheidet darüber, nach welchem Recht der Antrag auf Leistungen nach dem OEG bearbeitet wird.

Das Opferentschädigungsrecht löste 1976 die Kriegsopferfürsorge ab.
Wer also vor 1976 in der BRD (oder vor der Wiedervereinigung 1990 in der DDR) Opfer einer Straftat wurde, unterliegt dem §10a Härtefallregelung.
Dieser Paragraph erschwert nicht nur den Einstieg zum Erhalt von Leistungen nach dem OEG, sondern er verwehrt den Betroffenen sogar viele Leistungen, die anderen Betroffene, die nach dem Stichtag Opfer wurden, zugestanden werden.
Das widerspricht unserem Grundgesetz, dass alle Menschen gleich sind.
Für mich ist das Diskriminierung!

Und auch das neue Soziale Entschädigungsrecht (SER), welches 2024 in Kraft tritt, hebt diese Ungerechtigkeit nicht auf.
Im Gegenteil, das SER verschärft die Ungerechtigkeit noch, indem ab 01.01.2024 0:01Uhr „neue“ Strafbestände ins Portofolio aufgenommen wurden, u.a. Psychische Gewalt und Stalking.
Mir völlig unverständlich ist, weshalb Altfälle und diejenigen, die leider noch bis zum 31.12.2023 23:59 Uhr Opfer werden, diese Strafbestände weiterhin nicht anerkannt bekommen, obwohl Psychische Gewalt und Stalking schon lange im Strafgesetzbuch Einzug gefunden haben.

Für die Altfälle ist die Reformierung des OEGs in diesem Punkt eine erneute Benachteiligung, denn wir hatten gehofft, dass der §10a endlich abgeschafft wird.
Möge denjenigen, die dagegen entschieden haben, ewig beim Händewaschen das Wasser in die Ärmel laufen.


Vorschäden brechen Betroffenen buchstäblich das Genick bei der Bewertung der Höhe des GdS durch die medizinische Abteilung der Versorgungsämter oder externen Sachverständigen.

Als Vorschäden gilt alles an gesundheitlichen Störungen, was vor der ersten Straftat durch andere Ereignisse ausgelöst wurde, z.B. auch organische körperliche und psychische Gebrechen.

Als Beispiel kreiere ich hier jetzt ohne Vorbild mal einen Fall:

Paul sitzt aufgrund eines Unfalls im Rollstuhl, seit er mit 16 einen Skiunfall hatte. Mit 35 wird er von einem Unbekannten attackiert und durch eine Pistolenkugel wird seine Wirbelsäule beschädigt.

Dass die Pistolenkugel nicht alleine verantwortlich dafür ist ,dass Paul nach der Tat (weiterhin) im Rollstuhl sitzt, ist wahrscheinlich auch für jeden nachvollziehbar.
Doch das ist nicht alleiniges Bewertungskriterium bei der Bestimmung des GdS. Denn trotzdem kann Paul z.B. Schmerzen durch die Schussverletzung haben oder eben auch psychische Beschwerden wie PTBS oder Angststörungen oder Depris.

Kompliziert wird es, wenn bei Paul auch schon vor der Tat psychische Beschwerden bestanden, wie z.B. eine Depression, bedingt durch das eingeschränkte Leben im Rollstuhl oder Angstzustände, ausgelöst durch den Skiunfall mit 16, weil er in eine Lawine geraten war.
In diesem Fall kann es sein, dass Paul keinen GdS auf die Diagnose Angststörung bekommt, weil es sich nicht abgrenzen lässt, ob und wie hoch der Schaden durch die Tat ist oder ob der Schaden im Rahmen einer Verschlimmerung berücksichtigt werden kann.

Und richtig kompliziert und wahrscheinlich sehr frustrierend könnte es für Paul werden, wenn schon in der Kindheit ein sogenannter Milieuschaden entstanden ist oder dieser von den Sachverständigen allein aufgrund der Biografie angenommen wird.

Was ist ein Milieuschaden?

Da dieser Begriff nicht in den Alltag gesunder Menschen gehört und eigentlich erstmalig mit dem OEG relevant wird, kommt es oft zu Verwechslungen, bzw. Irritationen, da der Begriff im Alltag eigentlich eher für das „Rotlichtmilieu“ genutzt wird.

Ich habe den Begriff auch vorher nicht gekannt und hab mich erstmal ziemlich doof und unwissend gefühlt.

Beim OEG bedeutet Milieuschaden, dass Schäden entstanden sind durch das unmittelbare Umfeld der Betroffenen, die aber eben keine Straftaten im Sinne des OEG darstellen, sondern aufgrund ihrer Art die Psyche eines Kindes formen.

Milieuschäden können die Ursache für Entwicklungstraumata sein, da es sich um Langzeitereignisse handelt, welche auch für Prägung und Konditionierung bei Kindern sorgen und dadurch auch psychische Störungen verursachen.

Darum gelten Milieuschäden oft als Grund zur Absenkung des GdS, bzw. machen es oft schwierig, die Schädigungsfolgen von Straftaten eindeutig abzugrenzen.

Das Gesetz sagt hierzu salopp ausgedrückt…eine OEGrelevante Störung kann nur dann geltend gemacht werden, wenn alle anderen Ereignisse in deinem Leben zusammen gerechnet nicht von überragender Bedeutung waren…und das ist bei Biografien mit Milieuschäden halt sehr schwierig.

Dazu zählen Kinderheim, wechselnde Bezugspersonen, mangelnde soziale Kontakte, Krankheiten der Eltern, Erziehungsstile, Religiöse Handlungen, aber auch andere, manchmal ganz „banale“ Dinge, die ich hier mal beispielhaft näherbringen möchte:

„Mama war ständig arbeiten“, „Papa war sehr streng“, „Meine Schwester wurde immer bevorzugt“, „Mein Bruder hat mich immer geärgert“, „ Meine Lehrerin ignorierte mich“, die Klassenkameraden ließen mich nicht mitspielen“, „Ich war beim Sport immer die letzte“, „Die ganze Familie hat getrauert“, „meine Eltern hatten keine Freunde“, „meine Eltern haben den Kontakt zur Familie abgebrochen“, „meine Mama liebt mich nicht“, „In dem Mehrfamilienhaus war immer Theater“, „Nachts war bei den Nachbarn immer Randale“, „ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen“, „Ich hatte schon sehr früh eine Tagesmutter“, „meine Eltern hatten keine Zeit für mich“, „ Zu den Elternabenden ist keiner hingegangen“, „ich hatte nur olle Klamotten und habe mich deswegen geschämt“, „Das Geld war immer knapp“, „oft gab es nichts zu essen“, „Ich bin oft hungrig ins Bett“, „Ich bekam viel Stubenarrest“, „Bei und setzte es öfter mal was“, „Wir mussten immer sehr früh ins Bett“, „Ich hatte oft keine Schulsachen dabei“, „ich habe meine kleine Schwester gegen meine Eltern verteidigt/Strafe auf mich genommen“, „Meine Eltern machten nachts Party“, „Mein Vater war immer besoffen“, „wir mussten immer zur Kirche“, „wenn die letzte Bahn weg war, mussten wir 5 Kilometer durch Gewitter oder Schnee laufen“, „Die Nachbarn haben schlecht über uns geredet“, „die anderen Kinder durften nicht mit mir spielen“, „ich bekam Süßigkeiten/Aufmerksamkeit nur, wenn ich ganz brav war“…

Das sind nur Beispiele, es gibt noch tausende andere 😉

Und es wird leider sehr gerne verwendet gegen die Antragsteller…‘
Einer belegbaren Diagnose bedarf es hier nicht, es reicht leider oft genug die Annahme der Sachverständigen schon aus, die Biografie an sich ist dann anscheinend ausreichender Beweis. Und Betroffene scheitern selbst vor Gericht, wenn Milieuschäden im Raum stehen.

Kommen wir zurück zu Paul:
Paul, unsere arme Socke, lag schon im zarten Alter von 4 Jahren mal für 6 Wochen alleine im Kinderkrankenhaus wegen einer Herzoperation, und obwohl die Krankenschwestern alles für ihren süßen Patienten taten, um ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, hat der kleine Paul natürlich seine Eltern vermisst.

Der Sachverständige, der Paul 3 Jahre nach der Tat begutachtet, nimmt nun an, dass Paul damals als Kind durch diesen Aufenthalt im Kinderkrankenhaus und die Trennung von den Eltern eine psychische Störung erlitt, die die Weichen gestellt hat, dass er psychisch instabil wurde. Beweise braucht er dafür nicht, seine Kompetenz und Erfahrung und das gelegentliche Lesen von medizinischen Abhandlungen ist ausreichend…

Und wenn der gebeutelte Paul 1 Jahr nach der Tat von seiner Partnerin verlassen wurde und die Olle auch noch den Lieblingshund mitgenommen hat, bewertet der Sachverständige diesen Umstand 1 Jahr später bei der Begutachtung als ebenfalls große Belastung, und das nennt sich dann Nachschaden.
Was natürlich auch nochmal ordentlich Punktabzug gibt beim GdS und so geht Paul mit einem GdS von 0-20 nach Hause und das Versorgungsamt muss keine OEG Rente zahlen.

Mein Fazit:
Wer eine Kindheit oder auch als Erwachsener ein Leben mit Aufs und Abs hatte, darf nicht Opfer werden…

Paul war schlau…er hatte schon kurz nach der Antragstellung im Internet nach Infos zum OEG gesucht und wusste deswegen durch Betroffenengruppen und Blogs schon eine Menge darüber, wie schlecht die Quote der positiven Bescheide ist.
Und deshalb hat Paul frühzeitig auf Empfehlung einer bezopften Bloggerin eine Rechtsschutzversicherung mit Sozialrecht/Opferrecht abgeschlossen.

Paul geht natürlich in den Widerspruch, nachdem er nach vielen Telefonaten endlich einen Anwalt findet…
Und wie sollte es anders sein, der Widerspruch wird auch abgelehnt.
Und dann nutzt Paul seine Rechtsschutzversicherung und klagt…. und kann sogar nach Genehmigung seiner Rechtsschutzversicherung ein Gegengutachten erstellen lassen.
Und wir drücken ihm alle Daumen 😉


Bisher habe ich übrigens nur ein Urteil im Netz gefunden, wo sich das Gericht mit Vorschäden befasste und pro Opfer entschieden hat:

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6. März 2013 – L 4 VG 11/11

Für eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz genügt es, dass die Krankheit in engem Anschluss an den belastenden Vorgang ausgebrochen ist und später keine Umstände hinzugekommen sind, die diesen Vorgang als unwesentlich für die aktuell bestehenden Beschwerden erscheinen lassen. Bestehen bei Opfern von Straftaten Zweifel, ob schon vor der Gewalttat Krankheitsanzeichen bestanden haben (sogenannte Vorschäden) oder ob andere Ursachen die Krankheit herbeigeführt haben, geht dies nicht zu Lasten der Opfer.

Kennt Ihr noch andere Urteile, dann bitte her damit 🙂

Eure Rapunzel